Die Autorin Johanna Spyri hat sich über die Entstehungsgeschichte von «Heidi» nie öffentlich geäußert. Weder hat sie der Nachwelt eine Autobiographie hinterlassen wollen, noch wissen wir, ob das Manuskript von «Heidi» heute noch existiert oder ob es durch einen Bombenangriff 1944 im Verlagsarchiv in Stuttgart zerstört wurde. Glücklicherweise sind zentrale Dokumente aus verschiedenen Nachlässen und Sammlungen erhalten geblieben, die in das Heidi-Archiv Eingang gefunden haben und darin als Schweizer Kulturerbe gepflegt und bewahrt werden.
Das Heidi-Archiv unterhält eine wertvolle Sammlung zum Thema «Heidi» und wurde von Heidi-Experte Dr. Peter Büttner, Ur-Enkel des ersten Heidi-Illustrators, seit 2006 aufgebaut. Das Heidi-Archiv repräsentiert die weltweite Verbreitung, Rezeption und Wirkung sowie die verlegerische Nutzung des Gesamtwerkes der Autorin bis zum Erlöschen der Urheberrechte 1931. Die Einzigartigkeit manifestiert sich in der kohärenten Zusammensetzung der Sammlung, die das Archiv zu einem wichtigen Teil des dokumentarischen Kulturerbes der Schweiz macht.
Das Heidi-Archiv umfasst folgende Bereiche:
- Bestand der deutschen Originalausgaben in geschlossener Auflagenfolge
- Bestand früher und seltener Übersetzungen aus über 20 Sprachen in Erstausgaben
- Bedeutende Widmungsexemplare
- Originalillustrationen, darunter die Erstzeichnungen zu «Heidi» von Friedrich Wilhelm Pfeiffer aus dem Jahr 1880 mit dazugehöriger Korrespondenz von Johanna Spyri
- Dokumente und Briefe der Autorin Johanna Spyri, ihrer Familie und ihrem Umfeld
- Umfangreicher Bestand an Verlagsunterlagen und Korrespondenzen
- Kinoplakate und Programme
- Drehbücher
- Production-Cells
- Heidi-Comics
- Zeitungsauschnitte
- Schallplatten und Hörspielkassetten
- Fotografien
Highlights aus dem Heidi-Archiv
In der Sammlung befinden sich seltene Übersetzungen, darunter repräsentative Bestände amerikanischer, chinesischer, französischer, hebräischer, japanischer und spanischer Adaptionen sowie die ersten deutschen «Heidi»-Ausgaben in Blindenschrift. Die englischen Erstausgaben von 1882 stammen aus dem Nachlass Johanna Spyris. Darüber hinaus gibt es ein Widmungsexemplar der Genfer Frauenrechtlerin Camile Vidart an Johanna Spyri, die ihre Erzählungen ins Französische übertrug.
Zum Bestandteil des Heidi-Archivs gehört auch eine wertvolle hebräische Sammlung mit einem Widmungsexemplar von Max Brod an die Tochter seiner langjährigen Mitarbeiterin Ilse Hoffe, die es in keiner anderen Bibliothek in dieser Vollständigkeit zu finden gibt. Das Widmungsexemplar von Max Brod, der wie die Familie Hoffe vor den Nationalsozialisten fliehen musste, ist ein einzigartiges Zeitdokument. Die hebräische Sammlung wurde 2022 in einer Ausstellung im Jüdischen Museum München gezeigt und verzeichnete 20.000 Besucher.
Zudem ist das Heidi-Archiv im Besitz zahlreicher Originalillustrationen. Die Originalentwürfe von Friedrich Wilhelm Pfeiffer zu «Heidi» aus dem Jahr 1880 und die dazugehörigen Briefe der Autorin sind Schlüsseldokumente. Sie sind besonders bedeutsam, da das «Heidi»-Manuskript nicht überliefert ist.
Zu den Highlights des Archivs zählt auch ein Filmskript der ersten Hollywood-Verfilmung von 1937 mit Shirley Temple in ihrer berühmten Rolle als Heidi. Das Drehbuch stammt aus dem persönlichen Nachlass des US-amerikanischen Filmproduzenten Darryl F. Zanuck mit zahlreichen Anmerkungen.
Bestand der Originalillustrationen
Im Konvolut «Friedrich Wilhelm Pfeiffer» werden die Original-Zeichnungen des Münchner Malers Friedrich Wilhelm Pfeiffer (1822–1894) aufbewahrt. Zwei Monate nach Erscheinen der Erstausgabe von «Heidi» zu Weihnachten 1879, wandte sich die Autorin an den Maler mit der Bitte, ob er die Aufgabe übernehmen wolle, ihre Bücher «Aus Nah und Fern», «Heimatlos» und «Heidi´s Lehr- und Wanderjahre» erstmals zu illustrieren.
Pfeiffers Bildentwürfe zu «Heidi» wurden in elf Auflagen der deutschen Originalausgabe abgedruckt und prägten das ikonische Bild von Heidi. «Die in diesen drei Strichätzungen gezeigten Szenen werden in den folgenden hundert Jahren in zahlreichen Ausgaben immer wieder aufgenommen» (Charlotte Tschumi: Zur Geschichte der „Heidi“-Illustrationen, in: Ernst Halter (Hg.): Heidi – Karrieren einer Figur. Zürich 2001, S. 28). Er hat „zentrale Begebenheiten aus der Geschichte visualisiert“ und damit die Ikonographie von Heidi maßgeblich beeinflusst, so Dr. Joachim Hesse, Leiter der Graphischen Sammlung der Zentralbibliothek Zürich. Pfeiffers Bilder wurden unverändert in acht Übersetzungen, die zwischen 1882 und 1886 erschienen sind, aufgenommen. Die Originalentwürfe des Künstlers sind einzigartige Dokumente, die im direkten Austausch mit der Heidi-Autorin Johanna Spyri entstanden sind und von ihr autorisiert wurden.